19.05.2019 | KATJA DIEFENBACH (Merz Akademie, Stuttgart /D)
Die biopsychische Individuation der Welt, oder:
Gibt es ein vitalistisches Modell materialistischer Politik?
Abstract
In Differenz und Wiederholung entwickelt Deleuze eine Theorie biopsychischer Individuation, in der Materie und Geist keinen binären Gegensatz bilden. Gegen jedes mechanische Verständnis von Materie als einer Entität, die durch Teilung und Zählung bestimmbar ist, geht Deleuze von der Koimplikation von Materie und Zeit aus. Leben ist das, was in der Materie selbst die Kräfte der Materie dynamisiert und mit der Komplexität akkumulierter Zeitschichten kommunizieren lässt. Ausgangspunkt und Schlüssel dieser Vorstellung ist der Begriff intensiver Differenz, mit dem Deleuze der Neutralisierung der Intensität in der westlichen Philosophie entgegentritt: Unausgedehnte Differentialverhältnisse aktualisieren sich in der Ausdehnung, ohne in ihr ausgeglichen oder annulliert zu werden. Intensität präsentiert das, was es an Unauffhebbarem im Quantitativen gibt und damit die der Quantität eigene Qualität. In meinem Vortrag möchte ich die unkanonischen Bezugnahmen auf Hume, Bergson, Kant und Freud diskutieren, die Deleuzes Lehre der Materie-Zeit-Synthesen unterliegen. Gleichzeitig geht es um die Frage, welche Art der Politik damit ins Spiel kommt. Gegen die These, dass Deleuze eine Ethik des Kreativen und Schöpferischen vertrete, die keine Widerstandskraft gegen den Innovationszwang kapitalistischer Gesellschaften entfalte, diskutiere ich die Elemente materialistischer Politik, die sich in Deleuzes Theorie der Potentialisierung der Zeit finden, einer Zeit, in der sich kein Subjekt und kein Kollektiv wiedererkennen können. Was macht diese Politik des Nichtidentischen und Asubjektiven aus, die in vollkommen positiven und vitalistischen Begriffen formuliert ist? Und handelt es sich in der Tat um Politik?
Biographical Note
Katja Diefenbach ist Professorin für Ästhetische Theorie an der Merz Akademie, Stuttgart. Sie arbeitet über französische Philosophie und Epistemologie der Gegenwart und veröffentlichte jüngst Spekulativer Materialismus. Spinoza in der postmarxistischen Philosophie (Turia + Kant 2018).