»The Leopard still has its teeth!«, bescheinigte der mit einem Ehrenleoparden ausgezeichnete britische Regisseur Ken Loach dem Filmfestival von Locarno. Inwiefern der “Leopard” seine Zähne zum diesjährigen, 56. Filmfestival von Locarno zeigte, bleibt umstritten. Unbestritten ist jedoch, dass die Jury mit ihrer Entscheidung, “Khamosh Pani”, das Werk der pakistanischen Regisseurin Sabiha Sumar mit dem “Goldenen Leoparden” als besten Film auszuzeichnen, für eine Überraschung sorgte. Das Familienporträt zeigt die Einflüsse des islamischen Fundamentalismus auf das alltägliche Leben in Pakistan im Allgemeinen und auf das Schicksal der Protagonistin, die den eigenen Sohn an die Fanatiker verliert, im Besonderen. Die Tatsache, dass man den gesellschaftspolitischen Gehalt des pakistanischen Erstlingswerkes beispielsweise dem meditativen Meisterwerk von Südkoreas Regiestar Kim Ki-duk, “Spring, Summer, Fall, Winter and Spring” vorzog, verweist auf das grundlegende Prinzip Locarnos, dem jungen, noch nicht etablierten Film eine Plattform zu bieten. Ki-duks Parabel über das Leben und den Zen-Buddhismus wurde zur Premiere vom Publikum mit Standing Ovations bedacht, doch auch schon in den vergangenen Jahren wurde von der Jury gerne an der einhelligen Publikumsmeinung vorbei entschieden.

Dabei hatte Publikumsgefälligkeit für Irene Bignardi, die (noch annähernd) neue Festivaldirektorin und ehemalige Filmjournalistin, von Anfang an oberste Priorität: Sie öffnete den Wettbewerb auch für Werke von Autoren, die schon fester im Sattel beziehungsweise Regiestuhl saßen, hievte das Filmfest am Lago Maggiore in die Riege der A-Festivals. Wo Locarno heute steht, ist nicht ganz klar, ist es doch nun kein “kleines” Festival mehr – dennoch aber das kleinste unter den großen, vergleicht man es mit Cannes, Venedig und Berlin. Dennoch: Mehr als 400 Filme liefen im diesjährigen Programm, zum einen auf der Piazza Grande, im Internationalen Wettbewerb, in der “All That Jazz”-Retrospektive, der Video-Sektion und mehreren anderen Neben- und Sonderkategorien.

Auf der Piazza Grande, dem größten Freiluftkino weltweit, laufen im Herzen der Stadt die Publikumsfilme vor bis zu 10.000 Zuschauern. Die für die Piazza ausgewählten Werke gelten als Highlights in Locarno. Der deutsche Beitrag, Sönke Wortmanns “Das Wunder von Bern”, feierte am 11. August Weltpremiere vor ca. 6.200 Zuschauern. Bei den Kritikern eher umstritten gewann er den Publikumspreis und setzte sich somit gegen Nigel Coles hoch gelobten Film “Calendar Girls” durch. Wortmann verarbeitet “große” Themen, wie die deutsche Nachkriegszeit, das Wirtschaftswunder und den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft in Bern 1954 in der “kleinen” persönlichen Geschichte des zehnjährigen Matthes (Louis Klamroth) und seines Vaters Richard (Peter Lohmeyer). Dieses Kriegsheimkehrerdrama wird mit dem Sport verknüpft. Fußballer Helmut Rahn (Sascha Gröpel) ist das Idol des Jungen, und die Beziehung der beiden stellt sich als eine ganz besondere heraus.

Wer also lediglich ein Fußballspektakel erwartet, wird enttäuscht, aber zugleich mit einer komplexen, wenn auch plakativen Familiengeschichte entlohnt. Wortmann entwickelt weitere unterschiedlichste Handlungsstränge. Beispielsweise gibt es einen doppelten Vater-Sohn-Konflikt im Film: Zum einen ist da die Kluft zwischen dem verbitterten Kriegsheimkehrer und dem jüngeren Sohn, der quasi die durch “die Gnade der späten Geburt” am Krieg unschuldige deutsche Jugend symbolisiert. Zum anderen kommt es zum Konflikt zwischen dem Vater als Repräsentanten eines Kriegs- und Nachkriegsdenkens und dem älteren Sohn (Mirko Lang), der an eine alternative Politik, die der DDR, glaubt. Um den zeitgeschichtlichen Reigen zu vervollständigen, taucht auch noch ein junges Reporterpärchen (Katharina Wackernagel, Lucas Gregorowicz) auf, welches für den dynamischen Austritt aus der Nachkriegszeit der noch jungen BRD steht und ansonsten eher zum amüsanten Teil des Films beiträgt.

All diese Aspekte werden jedoch nur oberflächlich angedeutet, vieles wird angesprochen, weniges richtig herausgearbeitet. Sönke Wortmann greift technisch auf die Heimatfilmästhetik der 50er Jahre zurück, und der Film bleibt trotz der “großen” Themen bloßes Unterhaltungskino – wenn auch der ambitionierten Art. Doch obwohl der Film zu wenig riskiert, um ein Sensationserfolg zu werden, wird er in Deutschland sein
Publikum finden.

Verena Lichtenstein & Melanie Raabe
Erschienen in: Schnitt – Das Filmmagazin.