Wenn man auf dem “Festival Internationale del Film” in Locarno mal wieder von einem Spielort zum anderen hetzt, um das riesige Filmangebot auch nur ansatzweise zu bewältigen, da

Das Institut für Medienwissenschaften im Gespräch mit dem Schweizer Filmjournalisten und Wissenschaftler Christian Jungen

IfM: Locarno hat in diesem Jahr den Status eines A-Festivals erhalten. Wie würden Sie diese Entwicklung einschätzen?

C. Jungen: Zunächst muß man sagen, was A-Festival bedeutet. A-Festival bedeutet eigentlich nur soviel, daß ein Festival nicht mehr spezialisiert ist, sich nicht mehr auf eine besondere Kategorie beschränken muß; also zum Beispiel auf Erstlingsfilme oder Kurzfilme sondern, daß ein Festival alle Filme zeigen kann. Das war bislang nicht der Fall.
Bis vor drei Jahren war Locarno ein Entdeckungsfestival, das ausschließlich Erstlings- und Zweitlingswerke im Wettbewerb hatte. Nun könnte es theoretisch auch den zehnten Spielfilm eines Regisseurs in den Wettbewerb bekommen.

IfM: Wie wird diese Entwicklung seitens der Major-Studios gesehen?

C. Jungen: Seitens der Hollywood-Major Studios hat sich nicht viel verändert, weil Locarno das kleinste der großen Festivals ist und das größte der kleinen. Und es hat vor allem einen Nachteil, wenn es um große Filme buhlt: es findet 10 Tage vor Venedig statt. Jedes Hollywoodstudio, das seinen Film lancieren möchte über ein Festival wird den Film in Venedig zeigen, weil Venedig ein größeres Festival ist und vor allen Dingen, weil Venedig viel mehr akkreditierte Presse hat. In Venedig sind zweieinhalbtausend Journalisten akkreditiert, in Locarno sind es tausendzweihundert. Das heißt wenn ein Hollywood-Majorstudio einen Film lancieren möchte, gibt es viel mehr Resonanz in Venedig. Und deshalb hat sich eigentlich für Locarno mit diesem A-Status, was die großen Produktionen betrifft nichts geändert. Es hat nach wie vor kaum eine Chance an solche Produktionen für den Wettbewerb heranzukommen. Anders sieht es aus, wenn ein großes Studio einen Film auf der Piazza Grande zeigen möchte, dies ist durchaus möglich.

IfM: Wie sehen Sie die Entwicklung, daß man weg von den Erstlings- und Zweitlingswerken geht? Sehen Sie darin eher einen Vorteil oder Nachteil für das Festival in Locarno?

C. Jungen: Wenn man jetzt sieht was für eine Stimmung um das Festival herrscht in diesem Jahr, dann kann man nicht behaupten, das sich das positiv ausgewirkt hätte. Meiner Meinung nach hat Locarno zur Zeit ein Profil-Problem. Es weiß gar nicht genau, was für ein Festival sind wir eigentlich. Bislang war immer klar: Locarno, das ist ein Entdeckungsfestival. Das hat eine große Geschichte. In Locarno wurde Jim Jarmusch entdeckt, in Locarno wurde Spike Lee entdeckt, Ken Loach; das war bislang das Profil. Nun hat man den Horizont erweitert, aber eben man kommt nicht wirklich an diese großen Filme ran. Und deshalb bestehen sehr viele Unsicherheiten. Und die Aufwertung zum A-Festival hat auch eine Erwartungshaltung geschürt, die Locarno kaum einlösen kann. Und deshalb bin ich eigentlich eher skeptisch, das das etwas gebracht hätte. Meiner Meinung nach, muß sich das Festival in nächster Zeit ziemlich genau überlegen, was ist unser Profil? Worauf wollen wir uns konzentrieren? Denn wir sind in einer Zeit der Event-Kultur; Film-Festivals boomen. In diesem ganzen Kampf der Festivals hat nur der eine Chance, der sich ein klares Profil gibt und der ein Programm hat, das sich von den anderen unterscheidet. Sundance in America hat das zum Beispiel sehr erfolgreich gemacht, die haben gesagt, wir spezialisieren uns auf Independent-Filme und dafür sind wir dann auch die Experten. Und Locarno ist nun ein bißchen weg gekommen von diesem klaren Profil und muß sich für die Zukunft genauer überlegen in welche Richtung es gehen will und ob es nicht wieder zurück will zu den Erstlings- und Zweitlingswerken.

IfM: Wo würden Sie die Zukunft von Locarno sehen? Welche Entwicklung wäre wünschenswert?

Interview mit Christian Jungen, Filmzeitschrift “Blick”, WM Uni Zürich

Biographie
Christian Jungen, geboren 1973, berichtet seit mehreren Jahren vom Filmfestival in Locarno. Als Filmjournalist schreibt er unter anderem für den Schweizer “Blick”. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Zürich und schreibt seine Dissertation über “Das Verhältnis der Mayor Studios zu den europäischen Filmfestivals”.

C. Jungen: Meiner Meinung nach müßte sich Locarno wieder auf diese Frühwerke spezialisieren. Locarno muß wieder der Ort sein, wo neue Talente entdeckt werden und es dann in 10 Jahren heißt: ach, der wurde damals in Locarno entdeckt. Damit würde die Tradition, die Geschichte eigentlich weitergeführt und andererseits zwingt die ganze Situation, die ganze Konstellation mit diesen vielen Festivals Locarno dazu, diese Ausrichtung wahrzunehmen. Wie gesagt 10 Tage nach Locarno findet Venedig statt. Das ist ein Generalisten-Festival. Und jeder Produzent, der einen Film gemacht hat, und selbst, wenn es ein Schweizer ist, der geht nach Venedig, weil dort einfach der Publicity-Power viel stärker ist. Und insofern zwingt auch diese Konkurrenz-Situation Locarno eigentlich dazu, wieder ein Entdeckungs-Festival zu werden. Locarno hat aber geschichtlich gesehen noch eine zweite Identität gehabt, es war das Festival wo neue Talente entdeckt werden, es war aber auch immer das Festival, das ein reiches Rahmenprogramm hatte, eine hoch qualitative Retrospektive, da wurde immer auch ein Buch herausgegeben zu diesen Retrospektiven und so hat Locarno eigentlich sein Renommee erreicht. Entdeckungs-Festival und auf der anderen Seite Rückschau auf große Meister oder auf wichtige Epochen in der Filmgeschichte.

IfM: Neben einer eigenen Sektion für schweizer Filme, der “Appellations Suisse” besteht auch eine eigene Sektion für Filme eines anderen Landes oder einer Region, in diesem Jahr “Porte Aperte: Cuba”. Das legt die Frage nach einer Rezeption im Rahmen einer nationalen Kinematographie nahe.
Wie wird der deutsche Film in der Schweiz gesehen?

C. Jungen: Man muß hier unterscheiden: die Wahrnehmung im Rahmen eines Festivals und sonst im Kino. In den letzten Jahren, eigentlich seit “Der bewegte Mann” hat es wie eine Welle gegeben von deutschem Kino. Und deutsche Filme, vor allem die neue deutsche Komödie mit ihren “bewegten Männern” usw., die hat eigentlich großen Anklang gefunden. Filme wie zum Beispiel “Der Schuh des Manitu” haben im Verhältnis zu Deutschland fast den gleichen Erfolg erreicht in der deutschen Schweiz wie in Deutschland. Insofern kann man sagen, daß das Interesse am deutschen Film in der Kinoauswertung in den Städten gestiegen ist. Etwas anders sieht es an den Festivals aus, weil da natürlich ein Fachpublikum zugegen ist, das hat eine andere Sensibilität und einen anderen Filmgeschmack. Dieses Derbe, was zum Beispiel die neue deutsche Komödie hat, ist im Rahmen eines Festivals eher weniger geschätzt worden und deutsche Filme hatten auch eher einen schweren Stand hier am Festival.
Man muß allerdings sagen, daß letztes Jahr ein deutscher Film gewonnen hat: “Das Verlangen”. Aber das hat ihm nicht viel genützt, der Film hat zwar hier den “goldenen Leoparden ” gewonnen, aber keinen Verleiher gefunden und ist in keinem Land noch nicht einmal in Deutschland überhaupt ins Kino gekommen.

IfM: Nach “Der bewegte Mann”, also Sönke Wortmann, war der deutsche Film, was die Zuschauerzahlen angeht, auch in der Schweiz sehr beliebt. Wurde deshalb auch “Das Wunder von Bern” für die Piazza Grande ausgewählt?

C. Jungen: Der Film ist sicherlich auch ausgewählt worden, weil ihn Venedig nicht wollte, insofern ist das eine indirekte Aussage zur Qualität des Films. Auf der anderen Seite, hat sich das natürlich strategisch angeboten, denn der Film heißt “Das Wunder von Bern”. Insofern kann man damit rechnen, daß der Film in der Schweiz einiges an Interesse hervorruft. Und für einen deutschen Film ist es nicht schlecht in Locarno lanciert zu werden, weil hier der ein oder andere deutsche Journalist zugegen ist. Wie ich das beurteilen kann, hat es auch eine kleine Feuilleton-Debatte gegeben in deutschen Zeitungen.

IfM: Die Darstellung der deutschen Geschichte in “Das Wunder von Bern” wurde von uns durchaus kritisch gesehen, teilweise als sehr problematisch beurteilt. Wie wurde das von der nicht-deutschen Presse ihrer Meinung nach bewertet?

C. Jungen: Der Film zeigt, wie man unterschiedlich reagiert, je nach Nationalität. Das war in der Schweizer Presse überhaupt kein Thema und die Deutschen hat das sehr stark beschäftigt. Das zeigt sich auch immer an der Berlinale, wenn da ein Film läuft, der irgendetwas mit Nationalsozialismus oder deutscher Geschichte zu tun hat, dann ist das immer sehr problematisch und die Deutschen reagieren immer viel betroffener und viel kritischer als das ausländische Beobachter tun.
IfM: Herr Jungen, wir danken Ihnen herzlich für dieses Gespräch.

Die Fragen stellten Martina Dressel, Simone Manzo und Anke Sohn. Die technische Leitung des Interviews hatte Rudolf Hirth.