Über Film sprechen mit jungen Gefangenen in der JVA Wuppertal

Eine Lehrveranstaltung von Dr. Hilde Hoffmann


»Filme befreien den Kopf« ist ein Zitat von Rainer Werner Fassbinder.
Das Seminar ist die Fortsetzung einer Veranstaltungsreihe in der das Sprechen über Film im Mittelpunkt steht.

Das Konzept

Die Veranstaltung bietet für alle Beteiligten eine einmalige Chance:
Für die Jugendlichen in Haft ist die Veranstaltung eine Einladung zur Begegnung mit Filmkunst.
Filme sind in besonderem Maß in der Lage die Emotionen junger Menschen zu spiegeln und als Medium komplexer Gefühlslagen zu dienen. Das gemeinsame Erleben im Kinodunkel bietet eine positive Gruppenerfahrung. Die Filme bieten einerseits vielfältige Anknüpfungspunkte an die eigene Biographie, andererseits werfen sie die ‚großen Fragen’ nach Liebe, Freiheit und individuellen Entscheidungsmöglichkeiten auf. Sie können neue Sichtweisen vermitteln, und Lust auf andere Erfahrungen machen. Kritische Situationen sowie bisher Unerreichbares kann ‚durchgespielt’ werden. Die anschließende Diskussion setzt der Sprachlosigkeit und Ohnmacht der Haft etwas entgegen. Die Jugendlichen werden in ihren Erfahrungen und Meinungen ernst genommen und erfahren Respekt und Interesse. Überdies bieten die wöchentlichen Treffen eine willkommene Unterbrechung der Isolation in Haft.

Für die teilnehmenden Studierenden bietet die Veranstaltung die Einführung in die Praxis der Filmvermittlung. Vom Auswählen und Zusammenstellen von Filmreihen, dem Erarbeiten von Fragestellungen und dem Vorstellen von Filmen bis zum anschließenden gemeinsamen Gespräch über Film. Bisherige Studieninhalte werden in die Praxis übersetzt und wöchentlich ausgetestet. Das Filmerleben der Jugendlichen in Haft kann reflektiert und eigene Sicht- und Redeweisen in Frage gestellt werden. Die gewonnenen Erfahrungen begleiten die Studierenden in ihre spätere Arbeitswelt als Redakteure, Produzenten oder in Kulturmanagement und -verwaltung. Darüber hinaus ist die Veranstaltung eine Gelegenheit Gefängnis – einen unsichtbaren und unzugänglichen Bereich von Gesellschaft –  zu erleben und zu reflektieren.

Filmauswahl, Filmvermittlung sowie die Begegnung mit Gefängnis und inhaftierten Jugendlichen wird im Vorfeld sorgfältig vorbereitet. Konkret beginnen die Studierenden mit dem Zusammenstellen einer Filmreihe und der Erarbeitung von Methoden der Filmvermittlung. Für einen Vortrag habe ich Klaus Jünschke gewonnen. Als ehemaliges RAF Mitglied war er selbst lange in Haft, seit 20 Jahren arbeitet er als Erziehungs- und Sozialwissenschaftler mit straffällig gewordenen Jugendlichen. Sein Vortrag konnte für die Bedingungen und Konsequenzen von Jugendhaft sensibilisieren. Er erklärte, dass Jugendhaft als Vergrößerungsglas dienen kann, unter dem gesellschaftliche Ungerechtigkeiten vom Kindergarten bis zur Ausbildungssituation, sichtbar werden. Vor Ort, d. h. in der Justizvollzugsanstalt Wuppertal klärte der Leiter des pädagogischen Dienstes für jugendliche Untersuchungsgefangene, Herr Möller, mit einer Einführung über die Inhaftierten, Alltag und Ablauf in der JVA Wuppertal auf.

Die Veranstaltungsreihe wurde durch Plakate angekündigt. Die Jugendlichen meldeten sich für die Filmabende selbst an, sie wurden nicht durch Autoritätspersonen ausgewählt. Die Abende in eigens dafür hergerichteten Räumlichkeiten der JVA beginnen gegen 17 Uhr mit der Begrüßung/Einleitung (15 Minuten), es folgt die Filmsichtung (90-115), die Rauchpause (15) und das Filmgespräch (60). Der Abend endet mit dem Einschluss gegen 20.30 Uhr.

Verdunkelung, ein tragbarer Beamer sowie die Filme werden mitgebracht. Getränke und Snacks für eine ausgelassene ‚Kinoatmosphäre’ ebenfalls.

Der sorgfältigen Vorbereitungsphase für die Bochumer Studierenden folgten die Filmabende im Jugendgefängnis der JVA Wuppertal Mittwochs von 17.30-20.30 Uhr.


Die große Aufregung

Am ersten Abend war die Spannung der TeilnehmerInnen – der Studierenden sowie der Häftlinge – groß. Nachdem die ‚Bochumer’ die Technik aufgebaut, die Verdunkelungen angebracht und die Snacks und Getränke arrangiert hatten, fühlten sich die Minuten bevor die Wuppertaler aus den Zellen geführt wurden an wie das Warten auf die ersten Gäste einer Party.

Die Begrüßung verlief erst einmal förmlich, im Stuhlkreis wurde getrennt Platz genommen, die Wuppertaler und die Bochumer saßen unter sich.  Schnell wurden in dieser Härte nicht erwartete Faktoren deutlich: Die Wuppertaler hatten Probleme ruhig auf den Stühlen zu sitzen. Überall im Raum wackelten Beine, wippten Füße, rangen Hände und trommelten Finger. Ein Teil der Folgen der physischen Isolation der Inhaftierten, die oftmals 23 Stunden am Tag allein in sehr kleinen Zellen zubringen, haben wir so sehr anschaulich miterlebt.

Viele hatten aufgrund der Aufregung über ihre noch ungeklärte Situation im Strafverfahren Schwierigkeiten sich länger zu konzentrieren. Auch der nicht abgefederte Drogenentzug machte einigen zu schaffen. Aus den genannten Gründen bekam die einzig erlaubte Droge, das Zigarettenrauchen, eine ungemeine Wichtigkeit. Besonders aber das große Bedürfnis, die eigene Situation in den Filmen gespiegelt zu sehen und über die eigene Lage zu sprechen, hatten wir nicht erwartet.


Die Filmauswahl

Ein paar der Filme auf unserer Liste waren bekannt, andere erschienen den Wuppertalern thematisch oder vom Produktionsdatum viel zu weit weg von sich und ihrer Situation.

Wir hatten Coming of Age – Filme zusammengestellt, die Anknüpfungspunkte an die eigene Situation erlauben, aber auch einen ganz anderen Horizont eröffnen sollten. Die Jungs hatten jedoch eigene Wunschfilme, durchgehend zum Themenkreis Gangs/Drogen/Gefängnis, die wir recherchierten, bestellten und vor dem jeweiligen Treffen sichteten. Nun hatten wir also zwei Listen, aus denen jeweils drei Filme für die nächste Woche zur Wahl gestellt wurden. Welcher Film dann tatsächlich angeschaut wurde, wurde dann von allen abgestimmt. Der Film wurde von dem, der ihn eingebracht hatte mit ein paar Sätzen zu Inhalt, Genre und Besonderheiten des Films vorgestellt. Allein dieses Verfahren war ein ungemein spannender Prozess. Anfänglich wurde von den Meinungsführern bestimmt, für welchen Film die Finger nach oben gingen oder die Jungs orientierten sich schon von sich aus an den dominanten Gruppenmitgliedern. Gegen Ende waren es mehr oder minder differenzierte Statements für oder gegen einen Film. Die neue Erfahrung, dass die eigene Meinung ‚etwas zählt’, wurde sichtlich genossen.

Schon die zweite Sitzung begann mit fantastischer Stimmung. Einige Jungs sagten sie hätten die „Minuten bis zum Abend gezählt“, „der Tag hätte gar nicht herum gehen wollen“. Der Film Sin nombre wurde durch einen Wuppertaler vorgestellt. Er sprach über die Gang, die dem Film Pate gestanden hatte und den Tod des Regisseurs, der umgebracht worden sei, weil er keine Schutzgelder zahlen wollte. Die anschließende Diskussion bestätigte, dass der richtige Film sich unsichtbar macht und ein Gespräch so tief werden lassen kann, wie kaum ein anderes Kunsterlebnis. Neben diesem Abend gehörte für mich auch der Abend kurz vor Weihnachten zu den schönsten gemeinsamen Filmerlebnissen. Die Jungs wollten zeigen, dass sie einen Liebesfilm durchhalten würden, die gemeinsamen Tränen der Rührung bei Tatsächlich…Liebe waren dann auch etwas ganz besonderes.

Zeitgleich zu der Veranstaltung überschlugen sich die Medien mit Berichten über „Jugendliche Intensiväter“, über „Monster-Kids“ und „Koma-Schläger.“ Obwohl das Projekt zunächst als filmwissenschaftliches Seminar angelegt war, blieb auch aus diesem Grund eine Auseinandersetzung mit der Situation jugendlicher Inhaftierter nicht aus.


race / class / gender

Folgt man den Berichten scheint Ausmaß und Härte von Jugendgewalt zuzunehmen – kriminologische Studien ergeben jedoch das Gegenteil. Einerseits sind sicher Quoten und Auflagenzahlen Anlass für die Formen der Berichterstattung, das Thema Jugendkriminalität wird jedoch auch politisch instrumentalisiert. Mit Alarmismus und Rassismus lassen sich die eigentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen, die Jugendkriminalität erst produzieren, ausblenden.

Wenn der Sozialwissenschaftler Klaus Jünschke schreibt, „in den Gefängnissen sind die Ärmsten und Ohnmächtigsten aus der Gesellschaft nahezu unter sich“, stimmt das unabhängig von der Herkunft und der Sprache. Gemeinsam waren allen Jugendlichen mit denen wir gearbeitet haben prekäre Verhältnisse.
Wir waren überrascht, wie wenig Bildung, pädagogische Maßnahmen und Therapie für die Jugendlichen vorgesehen ist. Die Situation, mit denen die Vollzugsbeamten sowie die Häftlinge umgehen müssen ist nicht produktiv. Die Rückfallforschung beschreibt, dass Arrest und Jugendstrafe ohne Bewährung 80% Rückfälle nach sich ziehen. Eine solch schlechte Erfolgsquote müsste erklärt werden. Schaut man genau hin, sind die Zahlen der in Haft sitzenden Jugendlichen pro Stadt so gering, dass der sozialpädagogische Umgang mit ihnen  (auch finanziell) möglich sein müsste.

Für uns ebenfalls erstaunlich war, dass bei der öffentlichen Auseinandersetzung mit Jugendkriminalität nicht thematisiert wird, dass die Straftaten Teil einer gesamtgesellschaftlichen Geschlechterproblematik sind. Wir erlebten die Vorstellungen von Weiblichkeit als beschränkt (reduziert auf ‘Hure’ oder ‘Mutter’), die zur Verfügung stehende Rolle als Mann war bedrückend. Keine zärtliche Szene konnte unkommentiert stehen bleiben. Für das Reden über Frauen oder über Sexualität stand den Jugendlichen bei gleichzeitig großer Schüchternheit nur sexistisches Vokabular zur Verfügung. Die Problematik starrer Rollenmuster spiegelt sich auch darin, dass über 97% der inhaftierten Jugendlichen männlich sind.

Was bleibt

Das Projekt war fordernd, nach jeder Sitzung wurde nachgebessert, neue Filme angeschaut und diskutiert, die Aufteilung im Raum und die Diskussionsform überdacht. Theoretisch und konzeptuell kamen wir Alexander Kluge näher als Alain Bergala.

Es hieß stärker leiten und eingrenzen als geplant. Wir waren überrascht, wie wenig geläufig es für die Häftlinge war, über eigene Gefühle und (Film)Erleben zu sprechen. Die Diskussionen waren anfangs mühsam, teils grotesk. Oft leuchtete den Wuppertalern aber auch einfach nicht ein, was noch zu bereden sei. So war es beglückend über die Zeit die Freude am gemeinsamen Gespräch wachsen zu sehen. In den Zigarettenpausen auf den Gefängnishof, erzwungen durch die körperliche Unruhe, erlebten wir die Gefängniskommunikation zu entfernten Fenstern immer mit der Sorge, dass die Vollzugsbeamten die Veranstaltung deswegen abbrechen würden. Nebenbei haben wir viel voneinander erfahren,  viele Tattoos bewundert und wüste Geschichten zu kleinen und großen Narben gehört.
Über die Praxis der Filmvermittlung und einer umfangreichen Sichtungserfahrung hinaus haben die Studierenden einen bleibenden Eindruck von der Gefängnisarchitektur, von Umgangsformen die die Institution hervorbringt sowie vom Haftalltag der Jugendlichen erhalten.
Die Studierenden schrieben in ihren Berichten von “Trauer in der letzten Sitzung“ und über „das Gefühl von Verbundenheit und Freundschaft.“ „So unterschiedlich wir auch waren, wir konnten Zeit miteinander verbringen ohne schlecht vom Gegenüber zu denken oder über ihn zu verurteilen, geschweige denn Angst vor ihm zu haben.“ Die Studierenden waren begeistert, dass „die inhaftierten Jungen sich jedes Mal auf die Termine freuten“. Die „Gefangenen fieberten den Kinoabenden entgegen, erschienen in bester Laune und bestmöglicher Kleidung“.
Für viele hat sich Anstrengung und Aufwand gelohnt.
Für die Wuppertaler war es eine Erfahrung ernst genommen zu werden. Durch die vom filmischen Erleben angeregten Gespräche haben die Teilnehmer daran gearbeitet eigenes und fremdes emotionales Erleben differenziert in Worte zu fassen und zu reflektieren – eine Voraussetzung für Empathie und eine Auseinandersetzung mit den eigenen (Straf-)Taten. Wichtig war auch das Wissen, dass es noch andere Filme, Gespräche und Abenteuer gibt für die es sich möglicherweise lohnt Neues zu wagen. Einer der Teilnehmer bat um die Verschiebung seiner Verlegung, weil er die Filmabende noch mitmachen wollte. Mit einigen Wuppertalern besteht weiterhin Briefkontakt.


Dank

An erster Stelle bedanke ich mich bei den Jugendlichen aus der JVA Wuppertal und bei den Studierenden der Ruhr-Uni Bochum.
Bei Günther Berkenbrink, Seelsorger in der JVA Wuppertal, bedanke ich mich für das eingelegte ‚Gute Wort’.
Bei Herrn Möller, Leiter des Pädagogischen Dienstes, bedanke ich mich für die Erlaubnis das Projekt durchzuführen und bei den Vollzugsbeamten für ihren wöchentlichen Einsatz.
Klaus Jünschke danke ich für Rat und Ermutigung in der Vorbereitungsphase und einen beeindruckenden Vortrag.
Für offene Türen danke ich Uwe Vorberg und dem Soziokulturellen Zentrum Bahnhof Langendreer.
Für die Bildbearbeitung danke ich Stefan Hufenbach.
Dem Bochumer Institut für Medienwissenschaft, IfM, danke ich für die finanzielle Unterstützung.



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