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Work together: Lyotard 100. Praktiken des Widerstreits (FSP Digitale Kultur der FernUniversität in Hagen und SFB 1567 “Virtuelle Lebenswelten”)

Dezember 6 @ 9:00 16:00

Zum 100. Geburtstag werden Lyotards Denkansätze im Kontext heutiger Debatten betrachtet

Jean-François Lyotard, der 2024 seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, steht für ein Denken, das sich den akademischen Normen entzieht und sich stärker den Künsten und der Literatur als festen Lehrmeinungen zuwendet. Seine Werke lassen keine kohärente »Metaerzählung« erkennen, sondern sind vielmehr Ausdruck der Diskussionen und Konflikte seiner Zeit, die sich in verschiedenen Phasen wie dem Freudo-Marxismus und seinem Engagement für den Algerien-Konflikt widerspiegeln. Die geplante Tagung zu seinem 100. Geburtstag wird Lyotards Gedanken im Kontext aktueller Debatten neu betrachten und untersuchen, wie seine Ideen helfen können, die heutigen Widerstreite zu verstehen und zu bezeugen.

„Exercices du différend“ – „Übungen im Widerstreit“ nannte Jean-François Lyotard, der 2024 100 Jahre alt geworden wäre, jene Versuche für das zu zeugen, was sich der Spra- che, der Darstellung und der Imagination entzieht. Sein Denken untersteht der Regel, Philosophie auszuüben, zu praktizieren, ohne zur Professorenphilosophie verurteilt zu sein („de professer la philosophie sans être condamné à la philosophie des professeurs“). Jen- seits (oder diesseits?) akademisch standardisierter Profile steht Lyotards Denken für eine Philosophie der écriture, die den Künsten und der Literatur näher ist als einer Lehrmeinung oder einer Theorie. Wie andere Vertreter:innen der French Theory seiner Generation ent- wickelt er sein Denken mit den Diskussionen seiner Zeit, in die er wiederholt wirkungsvoll eingegriffen hat (offenkundig: Das postmoderne Wissen, frz. 1979). Im Unterschied zu der anhaltenden Prominenz der Texte von etwa Deleuze, Derrida oder Foucault gibt es keine vergleichbar dauerhafte Rezeption der Werke von Lyotard. Aus den Wendungen in seinen Schriften, von der frühen Einführung in die Phänomenologie, der Zeit in der akti- vistischen Gruppe Socialisme ou barbarie, sein Engagement im Algerien-Konflikt, der freudo-marxistischen Phase, gefolgt von „seinem philosophischen Buch“ Der Widerstreit, über die zahlreichen Auseinandersetzungen einer philosophischen écriture, bis zu den späten monographischen Arbeiten über Figuren wie Augustinus und Malraux, lässt sich keine Lyotardsche „Metaerzählung“ zusammenstellen, die ein Werk ergäbe. Die Schriften Lyotards sind Symptome ihrer Zeit (durchaus im Lyotard wohlvertrauten psychoanalyti- schen Sinne), die gelesen werden wollen, und weniger Etappen eines Werkes, das sich auf Stichworte bringen ließe. Umso mehr ist es ein Philosophieren eines heterodoxen Den- kers des „enteigneten Subjekts“ (J.-M. Salanskis), dessen Formen des Denkens und Schrei- bens im Austausch mit Medien Technologie, Malerei, Musik und Literatur gewirkt hat. Zum 100. Geburtstag des 1998 verstorbenen Denkers möchte die Tagung Lyotard 100. Praktiken des Widerstreits zentrale Gedankengänge dieses heterogenen Werkes daher in den Kontext gegenwärtiger Debatten stellen. Was gibt uns Lyotard (heute) zu lesen? Weniger als darum, den Autor Lyotard oder dessen Werk zu ehren, wird es der Tagung darum gehen, wie sich heute für die Widerstreite zeugen lässt, die uns zeitgenössisch beschäftigen. Der Appell, den Lyotard selbst im Widerstreit artikuliert hatte, Formen der écriture zu erfinden, wie man nach Auschwitz „die Integrität des Denkens retten“ könne, hat an Dringlichkeit nur zugenommen. Dass Denken nicht bedeutet, Vorgefundenes ein- zuordnen und begrifflich zu systematisieren, sondern sich von dem affizieren lassen, das nicht vergessen werden darf, das nicht identifizierbar, gar unsagbar ist – und was Lyotard rätselhafter Weise enfance („Kindheit“) nannte, will die Tagung dagegen als Inspiration nehmen. Welche Appelle sind im 21. Jahrhundert zu hören, welche „Kindheitslektüren“ (so ein Buchtitel von 1995) wären heute zu vollziehen, welche Widerstreite heute zu bezeugen, warum philosophieren (wie die posthum herausgegebene kleine Schrift fragt)? Die Tagung setzt zwei Schwerpunkte:

I. Technik – Schrift – Medien

Medientheoretisch bilden diese drei Terme einen Begriffszusammenhang, der die Media- lität selbst umreißt. Lyotards Interesse für technologisierte Welten, mediale Apparaturen und Konstellationen der Schrift und des Schreibens skizzieren das Fragmentarische, das aller Medialität zugrunde liegt. Mit Lyotard wäre auch die Frage wie ohne Körper oder mit einem hybriden Technokörper (noch) zu denken wäre, noch einmal neu zu stellen. Das Schreiben, die Schrift und die Schriftlichkeit erscheinen, so Lyotard in Discourse, Figure, wenn die Anwesenheit des Sprechers durchgestrichen ist. Was aber bedeutet heute, auch angesichts des „Nicht-Darstellbaren“ oder „Nicht-Identifizierbaren“, digitale Schriftlichkeit, eine Schriftpraxis, deren selbstlernende konnexionistischen Systeme selbst Schrift erzeugen? Wo und wie ist das Schweigen zu hören oder wie lässt sich das Unhör- bare hörbar machen? Wie vermögen sich Literatur, die bildenden Künste und ihre perfor- mativen Geschwister diesem ja stets unerfüllbaren Anspruch stellen?

II. Episteme – Zeugnis – Politik

Lyotards Konzeption eines irreduziblen und unlösbaren Widerstreits, in dem Argumente inkommensurabel sind, so dass er sich nur in einem Affekt zeigen kann, fügt dem vieldis- kutierten Feld der epistemischen Ungerechtigkeit und politischen Zeugenschaft eine ago- nale Dimension hinzu. Sie erlaubt es einen Sinn für Ungerechtigkeit ins Auge zu fassen, der weder zu einer subjektiven Gefühlsperspektive zusammenschmilzt noch einer verall- gemeinernden Vernunft unterzuordnen ist. Über welche Idiome verfügen die Widerstreite unserer Gegenwart? Welche wären (und von wem?) zu erfinden? Wo sind ihrerseits wie- derum die Grenzen der Zeugenschaft erreicht, und sind Positionierungen notwendig? Welche Fallen hält eine Identitätspolitik bereit, und welche Universalisierungen sind notwendig?

Organisation: Thomas Bedorf (FernUni Hagen), Christina Schües (Uni Lübeck) & Robert Schulz (FernUni Hagen)

Kooperation: FSP digitale_kultur (FernUni Hagen), SFB Virtuelle Lebenswelten (Ruhr-Uni Bochum), Deutsche Gesellschaft für französischsprachige Philosophie (DGFP)

Das Programm ist auch auf der Seite der FernUniversität Hagen abrufbar.

FSP Digitale Kultur der FernUniversität in Hagen und SFB 1567

RUB Veranstaltungszentrum

Gina Pirsig