17.01.23 | LORENZ ENGELL
Schaltung werden – Zu Ontologie und Ästhetik des Flüssigkristallbildschirms.
Abstract
In den letzten Jahren verlagert sich die Aufmerksamkeit in den Bildwissenschaften von den rechnergenerierten, aber optisch wahrnehmbaren Bildern immer stärker auf die „unsichtbaren Bilder“. Unsichtbare Bilder werden nicht mehr als für Menschen sichtbare Gebilde ausgefertigt, sondern nur mehr automatisch durch Rechner als algorithmische Datensätze verarbeitet, etwa in der Gesichtserkennung der Überwachungstechnologie. Durch diese Betrachtungsweise, für die der Algorithmus das „Eigentliche“ des Bildes ist, werden die Bilder logifiziert, immaterialisiert und dabei essenzialisiert, ihrer spezifischen Materialität aber letztlich entkleidet, die gegenüber dem Algorithmus als nur mehr akzidenzieller Nebeneffekt erscheint.
Dementgegen beharrt der Ansatz des „Schaltbildes“, wie er hier vorgestellt werden soll, auf der technisch-sinnlichen Materialität, auf den optischen Qualitäten der Datensätze und der Schnittstellen-, d.h. Kopplungsfunktion digitaler Bilder zwischen technischen und biologischen Funktionen in einem anthropo-medialen Gefüge.
Dabei gelangt insbesondere die epochale, aber bislang weitgehend undiskutierte Durchsetzung des Flüssigkristallbildschirms zwischen 2003 und 2010 in den Blick. Mit ihr wandelt sich die technologische Basis des digitalen Bildes vollkommen vom klassischen Röhrenbild, das an- und abschaltbar ist und mithilfe von Schaltern und Schaltoperationen verarbeitet wird, zu einem Bild, das selbst eine Konstellation von Schaltern und Schaltfunktionen ist, das seinerseits Schaltung wird.
Nirgends kann dieser Übergang zwischen zwei grundlegend verschiedenen Bildschirmtechnologien (dem klassischen Röhrenbild und dem Flüssigkristallbild) besser beobachtet werden als anhand des Fernsehens. Hier zeigen sich deutlich sowohl ästhetische Konsequenzen als auch weit tragende ontologische Implikationen, die die digitale Existenzweise massiv betreffen.
Biographical Note
Lorenz Engell, geb. 1959, ist Film- und Fernsehwissenschaftler, von 1993-2001 Professor für Wahrnehmungslehre und seither Professor für Medienphilosophie an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar, die er 1996-2000 als Gründungsdekan leitete. Von 2008 bis 2020 war er Co-Direktor des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM).
Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medienontologie, Medienanthropologie, Zeitphilosophie und das Mediozän; seine Untersuchungsgegenstände sind (Post-)Kinematographie und (Post-) Television sowie das Diorama. Er hat zahlreiche Bücher zu Geschichte, Ästhetik und Philosophie des Films und des Fernsehens verfaßt. Er war Begründer und 2000-2010 Mitherausgeber des Jahrbuchs „Archiv für Mediengeschichte“ sowie Mitbegründer und –herausgeber der „Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK)“ von 2009-2020.
Zuletzt erschienen „The Switch Image. Television Philosophy, London, New York: Bloomsbury Academic 2021; dt.: „Das Schaltbild. Philosophie des Fernsehens“ (Konstanz: KUP 2021) und „Die Relevanz der Irrelevanz. Aufsätze zur Medienphilosophie“ (zus. m. Christiane Voß, Paderborn: Brill-Fink 2021); demnächst erscheinen: Edgar Morin: Der Film oder der imaginäre Mensch (herausgegeben, übersetzt, und kommentiert von Lorenz Engell), Paderborn: Brill-Fink 2023 sowie „Anthropologies of Entanglement“, ed. by Lorenz Engell, Christiane Voß and Tim Othold, London, New York: Bloomsbury Academic 2023.