Laufzeit: Mai 2019 – April 2022


Kontakt

Prof. Dr. Stefan Rieger (Projektleitung)
Dr. Ina Bolinski (Wissenschaftliche Mitarbeiterin)
Dagny Körber (Sekretariat)

Institut für Medienwissenschaft
Ruhr-Universität Bochum
Universitätsstr. 150
Gebäude GA 2/140
44780 Bochum


Aktuelles

Stefan Rieger und Ina Bolinski:
Beyond the Anthropocene: Are We Entering a “Multispecies Turn”?

Abstract

Die Forderung nach artenübergreifender Kollaboration verändert gängige Positionsbestimmungen zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen, Artefakten und einer zunehmend mediatisierten Umwelt. Der anthropozentrische Blick und die über lange Zeit verbürgte Überlegenheit des Menschen gegenüber dem Tier taugen nicht länger zur Beschreibung aktueller Lagen. Nicht zuletzt unter dem Druck der Human-Animal-Studies, post- und transhumaner Denkströmungen sowie veränderter Vorstellungen von Handlungsträgerschaft gewinnen Kollaborationen und Kommunikationen zunehmend an Kontur. Konsequent ist deshalb die Erweiterung der Akteure, das systematische Einbeziehen von Pflanzen, Pilzen, Insekten, Mikroben, technischen Artefakten und schlussendlich die Öffnung zu lange Zeit in Misskredit geratenen Konzepten wie dem der Ganzheit.

Das resultiert in einer Bewegung, die man bei allen Vorbehalten gegenüber der Rede vom Turn als Multispecies Turn in der Gegenwartskultur beschreiben kann. Diese Bewegung hat ihren Ort in Wissenschaft, Kunst, Politik und Gesellschaft. Eine Beforschung aus der Perspektive und mit dem Rüstzeugt einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Medienwissenschaft drängt sich geradezu auf, dreht sich dieser Turn doch auch immer wieder um die Kollaboration mit medialen Techniken. So werden Tiere und Organismen konkret als Sensoren für die Krebserkennung oder als biologische Speicher für kulturelle Überlieferungsszenarien der Zukunft verwendet – zwei exemplarische Bereiche, in denen sich ihre Überlegenheit gegenüber technischen Varianten auszahlt. Was zwischen den Arten changiert, ist bisher theoretisch höchstens ansatzweise erfasst. Damit ist ein Defizit benannt, auf das die neu entstehende Disziplin der Animal-Computer-Interaktion ausdrücklich hinweist. Dieses Defizit zu schließen und dabei sowohl die Ebene der ethischen Reflexion und die einer politischen Verantwortlichkeit im Blick zu halten, ist neben der Rekonstruktion exemplarischer Phänomene erklärtes Ziel des gesamten Vorhabens.


Collaborations across species are about to challenge well-established taxonomical and epistemological divides between humans, animals, plants, cultural artifacts and increasingly mediated environments. An anthropocentric position, which has emphasized humankind’s island position and man’s pre-eminence above other living beings, does not longer work under these new conditions. As a result of the interdisciplinary Human-Animal-Studies, or post- and transhumanist approaches within various fields of theory, plus changing understandings of agency, new concepts of collaboration and communication begin to take shape. Consequently, individual species within the kingdoms of plants, fungi, insects, or microbes as well as technological artifacts are increasingly being reflected upon as actors. With this shifting focus on non-human actors, the presumably obsolete concept of holism reemerges as a fruitful construct.

All of the above results in what can be described as the Multispecies Turn within contemporary culture. It is located in diverging social fields such as hard and soft sciences, arts, politics, and society. Media studies, as a branch of the humanities with a focus on cultural techniques, can play a crucial role with regard to this Turn, as it often reflects on collaborations which take place with the help of media technologies or within medial environments of various living and non-living actors. Be it dogs as sensors for cancer diagnostics or bacteria’s DNA as data storage – biological actors have already surpassed technological variants in various fields of hard sciences. But what is happening between the species also needs theoretical reflection – a deficit which is also mirrored in the establishment of new fields of research such as Animal-Computer-Interaction. While working on exemplary phenomena, the final goal of our research is to close a theoretical and epistemological gap while also addressing the ethical and political implications of these new environments.


Aktuelle Publikationen (Auswahl)

Ina Bolinski und Stefan Rieger (Hrsg.): Navigationen 1 (2021) (Multispecies Communities).
Jessica Ullrich und Stefan Rieger (Hrsg.): Tierstudien 18 (Tiere und / als Medien). Berlin: Neofelis 2020.
Ina Bolinski: Von Tierdaten zu Datentieren. Eine Mediengeschichte der elektronischen Tierkennzeichnung und des datengestützten Herdenmanagements. Bielefeld: transcript 2020.
Ina Bolinski und Stefan Rieger: Das verdatete Tier. Zum Animal Turn in den Kultur- und Medienwissenschaften. Berlin: Metzler 2019.


Das verdatete Tier. Zum Animal Turn in der Medienwissenschaft

Laufzeit: Mai 2015 – April 2018

Abstract

Im Status ihrer Verdatung besteht zwischen Mensch und Tier oft ein Verhältnis der Symmetrie. So betreffen die technischen Möglichkeiten zur Vermessung im Raum die Herdenbewirtschaftung ebenso wie die Ausgestaltung menschlicher Lebensräume. Für beide Bereiche ist die gesellschaftliche, politische und ökonomische Relevanz unübersehbar – und das mit all den Ambivalenzen, die damit verbunden sind. So erlaubt die Verdatung von Nutztieren die Einlösung von Standards im Verbraucherschutz, allerdings um den Preis, den Status des Tieres selbst zu verändern. Und so erlauben menschliche Wohnunterstützungssysteme (zum Teil unter Verwendung derselben Technologien), die Autonomie betreuungsbedürftiger Personen in der Wahl der eigenen Lebensführung zu erhalten, allerdings um den Preis, einen Teil dieser Selbstbestimmung an technische Systeme zu delegieren. In beiden Beispielsfeldern sind Grundfragen nicht nur gegenwärtiger und künftiger Herausforderungen für die Gesellschaft (Alterspyramide, Kostenexplosion für den Pflegebereich, Massentierhaltung und Ernährungspolitik unter den Bedingungen der Globalisierung), sondern auch der Medientheorie betroffen: Beide Felder zwingen vor dem Stand neuer Medien, die unsichtbar, pervasiv und ubiquitär sind sowie die zur ihrer Realisierung zunehmend auf Big Data-Konzepte setzen, die Positionen von Mensch und Tier zur technischen Umwelt neu zu fassen. In einer Beschäftigung mit diesen Feldern liegt zugleich eine Chance für das Fach, seine mitunter doch sehr prekär gewordene Position in der öffentlichen Meinungsbildung wieder stärker zu profilieren.

Das Tier interessiert dabei nicht als kulturwissenschaftlich beschreibbares Motiv oder als lebensweltlich verorteter Erfahrungsraum für Alterität, sondern als symmetrischer Bestandteil gegenüber anderen Agenten und veränderten Umwelten. Dieser Status wird aktuell in einem wirkmächtigen Forschungsfeld diskutiert, das sich unter Titeln wie „Animal Studies“, „Human-Animal-Studies“ oder „Cultural and Literary Animal Studies“ international etabliert und zunehmend auch institutionalisiert. Ziel des Projektes ist es, die Voraussetzungen und Möglichkeiten sowie die Chancen und Grenzen eines sich dabei abzeichnenden „Animal Turn“ in der Medienwissenschaft in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise will es sich Klarheit darüber verschaffen, ob die Beschäftigung mit dem Tier lediglich ein einschlägiges Forschungsthema abgibt, wie dies z.B. der Körper in den 90er Jahren war; oder ob ausgehend von der Beschäftigung mit dem Tier, seiner Situierung in veränderten Umwelten und der daran geknüpften Verdatung her ein neues und integratives Forschungsparadigma Gestalt gewinnt, das sich auf den Humanbereich übertragen und damit für die Medienwissenschaft insgesamt fruchtbar machen lässt. Das Projekt setzt diese auch forschungspolitisch relevante Frage nicht als entschieden voraus, sondern will einen in der Zukunft noch ausbaubaren Beitrag zu ihrer Klärung leisten.


In respect to how their data is processed, humans and animals are related. Technological possibilities of measuring space concern livestock farming as well as the design of human living environments. Concerning both areas, relevance is undeniable, be it in social, political, or economical regard – and with all ambivalences related to that. Processing of data relating to livestock breeding allows to meet consumer protection standards, however at the cost of altering the status of animals themselves. Home automation systems (often times using the same technology) allow to preserve the autonomy of people requiring care, however at the cost of delegating some of this autonomy to technology. In both areas, fundamental questions are posed, concerning current and future challenges to society (population pyramid, rising costs for health care, factory farming, and food politics under conditions of globalization) as well as to media theory: Relations of humans and animals to their technological environment are newly conceived in the face of new media that are invisible, pervasive, ubiquitous, and focused on big data. In studying this field lies a chance for media studies to strengthen its role in the formation of public opinion, a role that has become weaker as of lately.

Thus in this project animals are intriguing not as a motif describable by cultural studies or as a phenomenologically located realm of experience for otherness, but as a symmetrical component opposite to other agents and altered environments. This particular status is currently discussed in an influential field of study, which presently establishes and institutionalizes itself internationally using names like “animal studies”, “human-animal studies”, or “cultural and literary animal studies”. The goal of the project is to take into account premises and possibilities as well as opportunities and limits of an emerging “animal turn” in media studies. In doing so, it wants to investigate if animals are just a relevant research topic comparable to the “body” in the 1990s, or if a new and integrative research paradigm is emerging: a paradigm that analyzes animals, their localization in altered environments, and the processing of their data linked to that. That paradigm would be transferable to the realm of humans and would be, thus, productive for media studies as a whole. The project proposed here does not treat this question that is relevant to science policy as decided, but rather opts to contribute to its clarification.

Veranstaltungen

Mit der Formel von den verdateten Tieren werden zwei Topoi aufgerufen, die unsere Kultur nachhaltig sortiert haben: Instinkt, Animalität, Intuition einerseits und Kalkül, Bewusstheit, Rationalität andererseits. Das Tier, das als Verkörperung natürlicher Intuition und vom Instinkt geleitet gilt, gerät im Modus des Berechnens an Konzepte von Rationalität und an die Möglichkeit der Verkörperung in und durch technische Prozesse. Zu fragen ist daher, wie die Tiere im Zuge der Verdatung einen veränderten Status erlangen, indem die Auflösung der vormals scharfen Grenzen in Bezug auf Natur und Kultur neue Strukturen des Miteinanders und des Wissens, also von Sozialität und Epistemologie hervorbringt. Betroffen sind aber auch Formen von Affektbezug und Emotionalität, die gerade durch die Vermittlung mittels Social Media und in der Möglichkeit der permanenten Partizipation durch das Internet der Tiere bestehen. Als Folge der Verdatung von Tieren und zugleich auch ihrer Medialisierung zeichnen sich neue Formen des Miteinander ab: Tiere, Technik und Menschen bilden einen Kollaborationsverbund.

Auffallend sind jedoch nicht nur die enormen Datenmassen, die das Tier in den Zustand einer medial vermittelten Transparenznatur versetzen. Auffallend ist auch eine Modifikation der Frage, wer denn überhaupt über Handlungsmacht und über Medienkompetenz verfügt. Dieser neue Akteurstatus verändert die Vorstellungen von Kommunikation und erschließt mit dem Interspecies Internet andere Dimensionen. Ziel dessen ist nämlich nichts Geringeres, als Kommunikationsstrukturen zwischen Menschen, Tieren und weiteren Intelligenzen zu schaffen. Eine vom Personenstatus unabhängige Kommunikation, die somit zugleich an einer Grundfeste der anthropologischen Differenz rüttelt, scheint zurzeit lediglich Utopie. Was sich jedoch im Umfeld der aktuellen Animal-Computer Interaction (ACI) abzeichnet, sind multispecies communities. Diese werden zu Heimstatt neuer Akteure, neuer Kollaborationen, neuer Verantwortlichkeiten und neuer Sozialformen: zwischen Menschen und Tieren, Pflanzen und Algorithmen, Artefakten und Biofakten, Maschinen und Medien, Belebtem und Unbelebtem, Realem und Virtuellem, Simuliertem und Modelliertem. Ziel dieser Veranstaltung ist es diese neuen Kollaborationen und Sozialitäten interdisziplinär in den Blick zu nehmen und auf ihre technischen und epistemologischen Wirkweisen hin zu befragen.


Radiobeiträge

Beim Workshop “Berechnete Tiere. Technik und Verdauung in den Human-Animal Studies” (22.-23. April 2016) hielt Thomas Schmickel einen Vortrag zum Thema “Biohybrid systems – Tiere, Pflanzen, Roboter, Agenten und Algorithmen”, der in der Sendung “Hörsaal” bei Radio Wissen am 15. April 2017 zu hören ist:

Schwarmintelligenz. Was sich Roboter und Ameisen zu sagen haben

Die Vorträge von Hermann Auernhammer zu »Precision Farming zwischen Realität und systemtechnischen Möglichkeiten« und von Ina Bolinski zu »Berechnung und Berechenbarkeit: Nutztiere in smarten Umgebungen« sind ebenfalls zu hören.

Precision Farming
Berechnung und Berechenbarkeit

In der Sendung »Breitband« auf Deutschlandradio Kultur spricht Stefan Rieger am 25. März 2017 zum Thema:

Vier Pfoten und ein Server. Vom Meme zum Nutzer – Das Tier im Netz ist mehr als nur Cat Content.

Der Vortrag mit dem Titel »Überlegungen zur Disziplin der Tier-Maschine-Interaktion«, den Oliver Bendel anläßlich des Workshops “Berechnete Tiere. Technik und Verdatung in den Human-Animal Studies” am 22. April 2016 an der Ruhr-Universität-Bochum gehalten hat, ist am 18. Juni 2016 bei DRadio Wissen in der Sendung “Hörsaal” zu hören:

Wenn Menschen, Tiere und Maschinen interagieren

Berechnete Tiere

Das Projekt wird gefördert durch die DFG.