DFG-Forschungsgruppe Medien und Mimesis (FOR 1867)


Kontakt

DFG-Forschungsgruppe Medien und Mimesis (FOR 1867)
Prof. Dr. Friedrich Balke (Teilprojektleiter und Stellvertretender Sprecher)

Institut für Medienwissenschaft
Ruhr-Universität Bochum
Universitätsstr. 150
Gebäude GB 3/55
44780 Bochum

Tel.: +49 (0) 234 / 32 – 27415
E-Mail: friedrich.balke@rub.de


Teilprojekt »Mindere Mimesis« (Erste Förderphase)

Kopieren, Zitieren, Paraphrasieren, Montagen, Remakes, Samplings, Serialisierung – diese Praktiken gehören zum medialen Alltag. Wer sie verwendet, macht von der Mimesis (altgriechisch für »Nachahmung«) Gebrauch. Die Forschergruppe untersucht diese seit der Antike bekannte Kulturtechnik, die sich in der Moderne im Spannungsverhältnis zwischen kreativen und nachahmenden Prozessen bewegt. Dabei geht sie von der leitenden These aus, dass die mimetischen Techniken nicht im Gegensatz zu Originalität stehen, sondern sie überhaupt erst möglich machen. Damit revidiert die Forschergruppe das weit verbreitete Klischee, dass die Moderne anti-mimetisch sei – eine Annahme, die vor allem in der Ästhetik und Kulturtheorie weit verbreitet ist. Mimesis und imitatio werden nicht länger in die Perspektive einer zu überwindenden Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen und seiner Werkherrschaft gestellt. Statt die Mimesis in einen Gegensatz zur modernen Technik und der auf ihr beruhenden Zivilisation zu manövrieren und sie als mit dem konstruktivistischen Selbstverständnis der Neuzeit grundsätzlich unvereinbar anzusetzen, verfolgt die Forschergruppe auf unterschiedlichen Ebenen die kultur- und sozialitätskonstitutive Funktion mimetischer Praktiken.

Das von der  Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte Kooperationsprojekt hat zum 1.4.2014 an den Universitäten Weimar, Bochum, München, Frankfurt am Main, Basel und Zürich seine Arbeit aufgenommen.

http://www.fg-mimesis.de/


Zusammenfassung

Die Fragestellung der minderen Mimesis entfaltet sich historisch und systematisch zwischen zwei Polen. Zum einen geht es um eine Rekonstruktion zentraler Etappen der Geschichte einer kultur- und medienkritischen Verwerfung oder uneingestandenen Verwendung mimetischer Praktiken, die als  bloß reproduktive und in diesem Sinne ‚mindere’ Kulturtechniken aufgefasst werden. Zum anderen soll die These geprüft werden ob eine zunehmende Revalorisierung minderer Mimesis mit spezifischen Entwicklungen auf dem Feld der Erfindung und Durchsetzung neuer analoger Medientechniken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts korreliert, so dass die mindere Mimesis zu einem zentralen medienästhetischen und medientheoretischen Faszinosum und Theorieprogramm werden konnte. Dabei unterscheidet das Teilprojekt drei Etappen einer Krisen- und Faszinationsgeschichte minderer Mimesis: von der ästhetischen und metaphysischen Zurückweisung des Nachahmungsbegriffs im Zeichen von Autonomie- und Genieästhetik um 1800 über die verschärfte Pathologisierung und Politisierung minderer mimetisch-assimilatorischer Praktiken im Verlauf des 19. Jahrhunderts bis hin zu ihrer medienästhetischen und medientheoretischen Revalorisierung. Ziel ist der Entwurf einer Genealogie der Formen minderer Mimesis. Das ‚Mindere‘ soll als missing link einer Zusammenführung von Mimesis- und Medientheorie sichtbar werden, die sich auf den drei unterschiedlichen Problemfeldern der antimimetischen Verwerfung, der medientechnologisch induzierten inframimetischen Mimesis sowie der hypermimetischen ‚Nachstellung‘ in den unterschiedlichen Strategien des filmischen Reenactments manifestiert.


Research Project „Inferior Mimesis“

Both historically and systematically, the investigation of minor mimesis, is situated between two poles: On the one hand, it will trace back the principal historical stages, in which the critique of culture and media have led to the dismissal or, rather, to the unacknowledged use of mimesis. On the other hand, it will show that an increasing revaluation of minor mimesis in the second half of the 19th century correlates with specific developments in the fields of invention and implementation of new analogue media technologies and how thereby minor mimesis turns into an intriguing and theoretically compelling key topic of aesthetics and theory of media. Three stages in this history of crisis and fascination may be distinguished: the aesthetical and metaphysical dismissal of the notion ‚imitation’ in the name of an aesthetic of autonomy and genius around 1800;  the subsequent pathologizing of imitation (or ‚aping’) and politicization of minor mimetic-assimilatory practices in the course of the 19th century; and eventually, the revaluation of minor mimesis in the fields of aesthetics and theory of media. Thus, the project aims at outlining a genealogy of minor mimetic forms, as it will show that the ‚minor’ is the missing link between the theory of mimesis and the theory of media, manifest on three different levels: the anti-mimetic refusal, the inframimetic mimesis induced by media technologies, and the hypermimetic re-enactment through in cinema and other audio-visual media.


Teilprojekt »Mimetische Existenzweisen« (Zweite Förderphase)

Das in der ersten Förderphase gewonnene Verständnis von Mimesis, das die normative Ausrichtung des imitatio-Paradigmas infrage stellt, nutzt das Teilprojekt 1 für seine neue Schwerpunktsetzung. Mimesis soll nicht nur als eine Darstellungstechnik, sondern zugleich als eine Existenzweise betrachtet werden. Am Kreuzungspunkt medienphilosophischer, medienhistorischer und medienästhetischer Überlegungen wird das Konzept der ‚Mimetischen Existenzweisen‘ systematisch und historisch auf den folgenden Ebenen entfaltet.

Erstens: Unter dem Eindruck der Etablierung technischer Analogmedien im 19. Jahrhundert entstehen folgenreiche Theorien, die das Soziale als ein medienbasiertes Nachahmungsgeschehen definieren und in Kategorien der Suggestibilität und der Übertragung fassen. Daran anschließend, und in Übertragung auf eine Gesellschaft unter digitalen Kommunikationsbedingungen, fragt das Teilprojekt unter dem Aspekt (exzessiver) Verbreitungsdynamiken, wie sich fluktuierende Überzeugungen und Begehrensströme formieren, am Beispiel digitaler Bildgebungs-, Bilddistributionstechniken und der auf ihrer Grundlage entstehenden Ästhetiken.

Zweitens: Im Anschluss an Roger Cailloisʼ Konzept der ‚Mimese‘ wird der digitale Raum als mimetisches Milieu konzipiert, das durch komplexe und nicht-hierarchische Angleichungsgesten zwischen Umwelt und Organismus gekennzeichnet ist. Das gegenwärtige Interesse an der Rolle von Affekten sowie ihren digitalen Modellierungen greift das Teilprojekt auf, um ein Konzept des ‚Sozioaffekts‘ zu erarbeiten, das auf die Bedeutung von Prozessen der tendenziellen Verschmelzung von Organismus und technisch-apparativer Umgebung abzielt. Das mimetische Spiel von Unterscheidung und Anschmiegung an ‚ein Anderes‘ wird an aktuellen Transformationen von Personen, Identitäten und ihren ‚Masken‘ untersucht, die als spezifische Ausprägungen einer ‚digitalen Mimikry‘ begriffen werden, weil sie die von Caillois unterschiedenen Spielarten der Mimese (Travestie, Tarnung und Einschüchterung) aufgreifen.

Drittens: Das Teilprojekt befragt Mimesis schließlich unter dem Aspekt ihrer exzessiven Modulationsfähigkeit. Im Mittelpunkt stehen hier die Übergänge und Appropriationen sowie die technische (‚hohe‘) Auflösung einer spezifisch digitalen Bildlichkeit. Die Wende von der Manipulation künstlerischen Materials zum Management von Bildern oder Bildpopulationen im digitalen Milieu erfordert die Ausarbeitung einer transitiven Mimesis, die nicht-deterministische und nicht-kausale Reaggregationen von Bildern bzw. zwischen Bildern in den Blick nimmt. Die am Phänomen der HD-Bildlichkeit zu beobachtende spezifische Virtualität verschiebt Mimesis von der notorischen Nachahmung eines Vor-Bildes in den Bereich eines ‚Vor-dem-Bild‘: Mimesis wird hier als ein ‚Bildwerden‘ (devenir image) untersucht, das nur im Rahmen spezifischer Realisierungsmilieus Gestalt annimmt, woraus die extreme Flexibilität und Wandlungsfähigkeit der abgeleiteten Bildformen folgt.


Team:


Veranstaltungen/Termine:

Wintersemester 2014/2015:

Workshop „Genealogien minderer Mimesis“.


Publikationen:

  • Balke, Friedrich (2018): Mimesis zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag
  • Balke, Friedrich / Engelmeier, Hanna (2016): Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des »Figura«-Aufsatzes von Erich Auerbach, Paderborn: Fink
  • Balke, Friedrich (2011): Torso, Henkel, Hybride. Das Leben der Dinge, in: Maria Muhle und Kathrin-Thiele (Hg.): Biopolitische Konstellationen, Berlin, S. 83–117.
  • Balke, Friedrich (2010): Possessive Mimesis. Eine Skizze und ein Beispiel, in: Gertrud Koch, Martin Vöhler und Christiane Voss (Hg.): Die Mimesis und ihre Künste, München, S. 111–126.
  • Balke, Friedrich (2009): Rete mirabile. Die Zirkulation der Stimmen in Philip Scheffners „Halfmoon Files“, in: Sprache und Literatur 104, Paderborn, S. 57–77.
  • Engelmeier, Hanna (2014a): „Objekt offen, Publikum im Kasten“. Gabriel von Max’ mediale Anthropologie, in: Christiane Voss und Lorenz Engell: Mediale Anthropologie, München.
  • Engelmeier, Hanna (2014b): Klimts Gorilla. Feindliche Gewalt, Typhon oder Gesamtkunstwerk? In: Cornelia Ortlieb, Patrick Ramponi und Jenny Willner: Das Tier als Medium und Obsession. Zur Politik des Wissens von Mensch und Tier um 1900. Berlin: Neofelis Verlag.
  • Engelmeier, Hanna (2014c): Totalismus. Karl Ove Knausgårds „Mein Kampf“, bis jetzt. Erscheint im November 2014 in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken.
  • Muhle, Maria (2012): Vom infamen Schreiben zum ästhetischen Realismus. Anmerkungen zu einer Politik des Schreibens, in: Claas Morgenroth, Martin Stingelin und Matthias Thiele (Hg.): Die Schreibszene als politische Szene, München, S. 183–203.
  • Muhle, Maria:  (2011): Reenactments der Macht. Überlegungen zu einer medialen Historiographie, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 56/2, S. 263–275.