14.06.2018 | HANS-JOACHIM BACKE
Spielen als makroskopischer Quantenzustand. Zum Verhältnis von Computerspiel, Authentizität und Dokumentarischem
Abstract
Computerspieltheorie hat sich seit ihren Anfängen intensiv an scheinbar unüberwindlichen Dichotomien abgearbeitet. Die wahrscheinlich bekannteste ist die oft als Schisma dargestellte Debatte zwischen „Ludologen“ und „Narratologen“, die sich an der Kernfrage orientiert, ob Computerspiele primär als Spiele oder Texte verstanden werden können (oder, dogmatisch formuliert, müssen). Jesper Juul hat von dieser Debatte einflussreich abstrahiert, indem er zwischen ‚realen‘ Regeln und dem ‚fiktionalen‘ Rest von Spielen unterscheidet (Juul 2006). Abseits von Ontologien des Spielobjekts ist die Dichotomie zwischen Gewaltdebatte und Gamification die bedeutendste, also die Frage, ob Computerspiele an sich schädlich oder therapeutisch sein können (oder, wiederum dogmatisch gesprochen, schlichtweg sind). Man mag diese Debatten als Indikator dafür nehmen, dass sich Wissenschaft stets als ideologischer Kampf zwischen Lagern, Positionen und Schulen gestaltet, oder, wie es dieser Vortrag versucht, anstelle von partikularen Dichotomien eine tiefergehende, unüberwindliche Ambivalenz vermuten.
Die Kernthese dieses Vortrags ist, dass Computerspiele als makroskopischer Quantenzustand verstanden werden können, d.h. als System zahlloser Variablen, die sich bereits in sich selbst, aber besonders im Zusammenwirken, nicht mit den Mitteln und Terminologien klassischer Physik oder Logik beschreiben lassen. Diese Überlegung fußt zu nicht unerheblichem Grad auf einem Aufsatz Tracy Fullertons, einer der angesehensten Game Design-Theoretikerinnen, zum Thema dokumentarische Computerspiele. In „Documentary Games: Putting the Player in the Path of History” spricht sie von „the inherent tension between the knowledge of an event’s outcome and the necessity of allowing player agency to affect that outcome“ (Fullerton 2008, 26) und legt damit ein Spannungsverhältnis offen, das hier als quantenmechanisch beschrieben werden soll: die Handlungen der Spieler sind stets von einer performativen Authentizität gekennzeichnet, die audiovisueller Ähnlichkeit und historischer Präzision nicht notwendigerweise zuwiderläuft, aber mit ihnen dergestalt interferiert, dass eine Wahrnehmung aller Dimensionen gleichzeitig – ähnlich der Bestimmung von Geschwindigkeit und Position eines Elektrons – unmöglich ist.
Der Vortrag spürt dem Verhältnis von Authentizität, Dokumentarischem und Agency (Murray 1997; Wardrip-Fruin 2009) in virtuellen Welten in einer Reihe von Vignetten nach, die Computerspieltheorien mit Musik- und Bildphilosophie in Dialog setzen, und schließt mit einer Beispielanalyse ab, die zeigt, wie sich zeitgenössische Spiele diesen theoretischen Aporien Ausdruck verleihen.
Biographical Note
Hans-Joachim Backe ist Associate Professor am Center for Computer Games Research der IT University Kopenhagen. Nach dem Magisterabschluss in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft in Saarbrücken promovierte er dort zu Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Seine derzeitige Forschung setzt sich mit den ästhetischen, technologischen und wirtschaftlichen Wechselbeziehungen zwischen Film, Comic und Computerspiel auseinander.