von Uli Ziemons
Wenn man auf dem “Festival Internationale del Film” in Locarno mal wieder von einem Spielort zum anderen hetzt, um das riesige Filmangebot auch nur ansatzweise zu bewältigen, dann hat man wenig Zeit für die Postkartenidylle der Umgebung. Zu schwierig ist die Entscheidung, welchen der knapp 450 Filme aus einem der über zehn Programme (Internationaler Wettbewerb, Videowettbewerb, FilmemacherInnen der Gegenwart, usw.) man sich als nächsten anschauen soll, als dass man sich um die atemberaubende Bergkulisse oder den Lago Maggiore kümmern könnte. Wie gut, dass Sönke Wortmann da Abhilfe schuf: In “Das Wunder von Bern” lässt er die Heimatfilmästhetik der 50er Jahre wieder aufleben und zeigt eine Schweiz, deren saftige Wiesen und blaue Himmel die grüne Heide dank Computerbearbeitung mehr als blass aussehen lassen. Den Schweizer Zuschauern auf der Piazza gefiel die Kombination aus Sport und Heimkehrerdrama offenbar, so dass der Publikumspreis in diesem Jahr nach Deutschland ging – bei dem recht durchwachsenen Programm der großen Abendvorstellungen jedoch keine wirkliche Auszeichnung für einen Film, der in Venedig abgelehnt wurde und gegen stärkere Konkurrenz nicht hätte bestehen können.
Ungleich stärker präsentierte sich in diesem Jahr der internationale Wettbewerb. Neben den Gewinnern der zwei Hauptpreise – Goldener Leopard für die pakistanisch-deutsch-französische Koproduktion “Kamosh Pani” (Silent Water), deren Geschichte um eine Familie zur Zeit der Islamisierung Pakistans Ende der 70er Jahre kreist, sowie der Leopard in Silber für “Gori Vatra” aus Bosnien, einer ironischen Betrachtung der Demokratisierung Bosniens nach dem Krieg – überzeugte vor allem der süd-koreanische Beitrag “Spring, Summer, Fall, Winter…and Spring” des “The Isle”-Regisseurs Kim Ki-Duk. Seine zyklische Geschichte um zwei Zen-Mönche, die in der Abgeschiedenheit eines Tempels nach spiritueller Erleuchtung streben und sich gegen weltliche Einflüsse behaupten müssen, erzeugt mit grandiosen Landschaftsaufnahmen und sehr reduzierter Inszenierung eine fast meditative Stimmung, die ihm unter anderem den Preis der Jugendjury einbrachte.
Der Preis der Kritikervereinigung FIPRESCI ging an den bolivianischen Film “Dependencia Sexual”. Mit ungewöhnlicher Videotechnik (durchgehend sind zwei Bilder im Splitscreen auf der Leinwand zu sehen, die einerseits verschiedene Handlungsstränge miteinander verknüpfen und andererseits unterschiedliche Blickwinkel auf Situationen ermöglichen) zeichnet Regisseur Rodrigo Bellott ein bedrückendes Bild jugendlicher Wirklichkeit zwischen Bolivien und den USA, die von Rassismus, Homophobie und der schwierigen Suche nach sexueller Identität geprägt ist.
“Dependecia Sexual” ist nur ein Beispiel für die große Anzahl lateinamerikanischer Produktionen, die in Locarno zu sehen waren. Die verstärkte Konzentration auf den südamerikanischen Kontinent zeigte sich außerdem im Sonderprogramm “Porte Aperte: Cuba” und dem Workshop “Argentinos Juniors” der argentinischen Regisseuren eine Plattform zur Präsentation geplanter Projekte und somit eine Chance auf mögliche Finanzierung bot.
Unter den bereits fertiggestellten argentinischen Produktionen vielen zwei Filme besonders auf: Die deutsche Koproduktion “Los Guantes Magicos” (The Magic Gloves), die der vielbeschworenen Schwermut der Argentinier mit an Kaurismäki erinnerndem Humor begegnet, und “Nadar Solo” (Swimming Alone) des 26jährigen Ezequiel Acunña. Das in der Sektion “FilmemacherInnen der Gegenwart” gezeigte Erstlingswerk erzählt die melancholische Coming-of-Age-Geschichte des 17jährigen Protagonisten Martin, der ziel- und motivationslos durch die Leere zwischen Kindheit und Erwachsensein treibt, bis er in der ernsten Luciana eine Gleichgesinnte trifft. Acuña inszeniert Martins Schwebezustand in kühlen Bildern voller Poesie und Ernsthaftigkeit, demonstriert gleichzeitig aber eine tiefe Sympathie zu seinen Figuren – vielleicht die schönste Entdeckung des Festivals.
Neben der überwältigenden Anzahl an Spielfilmen wurden auch einige interessante Dokumentationen gezeigt: Während sich Ulrich Seidl mit “Jesus, du weißt” in gewohntem Grenzgang zwischen Dokumentarfilm und Inszenierung den Eigenheiten der Gebete von sechs österreichischen Christen widmet und wiedereinmal die Frage nach der Authentizität aufwirft, wird Andrew Jarecki mit “Capturing the Friedmans” sozusagen “hyperauthentisch”: Ein Großteil des Films, der sich mit einer angesehenen amerikanischen Familie beschäftigt, die Ende der 80er Jahre durch den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs zerfällt, besteht aus Super8- und Videomaterial, das die Friedmans selbst aufnahmen. Jarecki gelingt es sehr geschickt, eine Wertung des Gezeigten zu umgehen – am Ende bleibt es dem Zuschauer überlassen zu beurteilen, ob die Vorwürfe gerechtfertigt waren oder nicht.
Weniger formell als inhaltlich bemerkenswert zeigte sich die mit dem Preis der Kritikerwoche ausgezeichnete Terroristendoku “The Weather Underground”, die das wenig bekannte Thema des linken Terrorismus in den USA der 70er Jahre aufgreift.
Auch in diesem Jahr war Locarno also wieder für einige Entdeckungen gut, und man kann nur hoffen, dass sich das Festival die publikumsnahe Atmosphäre des “Kleinsten unter den Großen” bewart und nicht der Versuchung erliegt, dem immer noch frischen A-Festival-Status zuliebe zu viele Kompromisse einzugehen.
Uli Ziemons
Erschienen in: MOVIE 09/2003, Kulturzone, KINO-KULTUR. Aachen