14.06.2016 | MARIO GRIZELJ (Ludwig-Maximilians-Universität München / D)
Körper, Material, Ding, Text oder Reliquien als Medien
Abstract
Der Vortrag geht von der Vermutung aus, dass sich die aktuelle Medientheorie noch sehr zögernd mit den Konstellationen des ausgerufenen ‚material turn‘ als einer Kulturwissenschaft der Dinge und auch sehr zögernd mit den aktuellen Realismen (‚Neuer Realismus‘, ‚Spekulativer Realismus‘) als „objektorientierten Ontologie[n]“ auseinandersetzt. In einem ersten Schritt soll diese aktuelle Wendung zu den Dingen, dem Material, der Wirklichkeit diskursgeschichtlich nachgezeichnet werden, in einem zweiten Schritt soll erörtert werden, wie Dinge definiert werden können, um dann im dritten Schritt über den Umweg exorbitanter Dinge – ‚heilige Texte‘ und Reliquien – der Medienwissenschaft einen Problemhorizont zu eröffnen, nicht nur die Medialität dieser exorbitanten Dinge in den Blick zu bekommen, sondern grundsätzlich die Medialität von Dingen, Objekten und Materialitäten.
Friedrich Gottlieb Klopstocks Texte und der Modus seiner literarischen Rede sind nicht darauf ausgerichtet, Gott und Jesus, ja nicht einmal überhaupt (religiöse) Inhalte zu repräsentieren. Vielmehr stellen sie ihren Redemodus, ihren Tonfall (Feiern, Loben, Singen, Beten) als die Medialität aus, die Gott und das Unendliche vermitteln sollen. Der Status der klopstockschen Texte ist prekär, weil sie „nicht den Inhalt einer Aussage abbilde[n]“, sondern sich selbst als Gesang vorführen. Gott wird erfahrbar, indem die Texte selbst (als Gesänge, Andachten, Gebete) als Erfahrung Gottes erfahren werden. Klopstocks Texte müssen daher nicht entziffert und dekodiert werden, sie fungieren kaum noch als Zeichen, sondern weit eher als sakramentale Dinge, die die Erfahrbarkeit Gottes im Modus ihrer Medialität (Feiern, Loben, Singen, Beten) zuallererst hervorbringen (efficiunt quod figurant).
Clemens Brentano besaß einen Koffer voll blutiger Tücher und Binden der Nonne Katharina Emmerick, er sammelte ihre Blutkrusten und Nägel. Er verstand diese ‚Dinge‘ als orendistische Reliquien, die, im Gegensatz zu animistischen Reliquien, Sakralität nicht vermitteln, sondern vielmehr selbst sakral sind. Reliquien nicht als Medien des Heiligen, sondern als heilige Medien. Hypothetisch ließen sich Brentanos Emmerick-Schriften als Versuch deuten, aus einem Text eine (orendistische) Reliquie zu machen, die nicht mithilfe der, sondern in Form der Emmerick-Texte die Anwesenheit Christi bezeugt. Bezeugt und eben nicht ‚nur‘ auf Christus verweist. D.h.: Die Emmerick-Schriften als ‚heilige Texte‘ und damit als Reliquien, die als Worte und Schrift genauso berühren und ergreifen können wie Wunden und Blutkrusten?
Biographical Note
PD Dr. Mario Grizelj lehrt und forscht am Institut für Deutsche Philologie der LMU München; WS 2014/15 bis SS 2016 und WS 2016/17 Vertretung des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur und Medien an der LMU. Forschungsschwerpunkte u.a.: Literatur-, Kultur und Medientheorien, das Verhältnis von Religion und Literatur zwischen Pietismus und Hegel. Habilitationsschrift: Wunder und Wunden. Religion als Formproblem von Literatur (1748-1842) (Fink 2017). Publikationen u.a.: (Mithrsg.) Theorietheorie. Wider die Theoriemüdigkeit in den Geisteswissenschaften (Fink 2011); (Mithrsg.) Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Metzler 2012); (Mithrsg.) Riskante Kontakte. Postkoloniale Theorien und Systemtheorie?(Kadmos 2014).